Scuol-Tarasp und seine Mineralwasserquellen gehören zusammen wie Pech und Schwefel.
Wenn die Welt einen Moment mucksmäuschenstill wäre, dann könnte man vielleicht das Blubbern unter der Erde von Scuol und Tarasp hören. Denn nirgendwo sonst in Europa sprudeln so viele Mineralwasserquellen auf engem Gebiet wie hier. Zum Beispiel die Lischana-Quelle ist mit 440 Milligramm Magnesium pro Liter die magnesiumreichste in Europa. Oder Sfondraz, sie enthält 850 Milligramm Kalzium pro Liter. Oder Lucius, sie hat mit mehr als 16 Gramm pro Liter die stärkste Gesamtmineralisation der über 20 Quellen rund um Scuol. «Es könnte jederzeit eine neue dazukommen, denn im Untergrund schlummern noch manche Wasser, die den Weg an die Oberfläche bisher nicht gefunden haben», ist Marianna Sempert überzeugt. Die Aargauerin lebt seit 30 Jahren in Scuol, kennt die Mineralquellen und ihre Geschichten in- und auswendig und war Mitbegründerin der Stiftung «Pro aua minerala».
Die reformierte Kirche von Scuol (Bild: Silvia Schaub).
Ihren einzigartigen Reichtum an Mineralquellen hat die Gegend dem «Unterengadiner Fenster» zu verdanken, einer geologischen Erosionserscheinung. Vereinfacht gesagt wird dabei eine sogenannte Überschiebungsdecke so stark erodiert, dass die überfahrene, tiefer liegende Gesteinseinheit wieder zutage tritt. Das dadurch entstandene Fenster war mit seinen Klüften sehr wasserdurchlässig, sodass zahlreiche Mineralquellen entstehen konnten. Das Wasser im Untergrund hat eine Verweildauer von 5 bis 25 Jahren, je nach Quelle.
Auf diese trifft man überall im Ort, wie eine Begehung mit dem Brunnenmeister Johannes Studer zeigt. Zum Beispiel am Dorfbrunnen Bagnera, wo neben normalem Wasser aus einem zweiten Hahn auch solches der Sotsass-Quelle sprudelt. Oder am Eichhörnchen-Brunnen mit der Clozza-Quelle etwas weiter oben im Dorf. Obwohl sich der Brunnenmeister vorab mit dem Grundwasser beschäftigt, betont Studer, dass die Brunnen eine Art Visitenkarte des Dorfes seien. Sein Team ist deshalb nicht nur für das Säubern der Brunnen verantwortlich, die Wasser werden auch regelmässig mikrobiologisch getestet.
Die Vi-Quelle oberhalb von Scuol (Bild: Silvia Schaub).
Bis in die 1970er-Jahre wurde das Mineralwasser kommerziell vertrieben und sogar bis nach London, New York und Sydney versandt. Doch als der Bund strengere Hygienevorschriften erliess und die Konkurrenz anderer Quellen zunahm, war das Scuoler Mineralwasser nicht mehr gefragt, zumal grosse Investitionen nötig gewesen wären. Heute kommen die wenigsten Gäste ausschliesslich des Mineralwassers wegen nach Scuol. Das war vor gut 100 Jahren noch anders. Damals lockten Scuol, Tarasp und Vulpera Tausende von Gästen ins Hochtal, darunter bekannte Schriftsteller, Industrielle und Adlige, die mit Trinkkuren und Bädern ihre Zipperchen kurieren wollten.
Die ehemalige Trinkhalle in der Büvette in Tarasp (Bild: Silvia Schaub).
Unten am Inn traf man sich in der Büvetta mit den Ausgabestellen für das Bonifacius-, Lucius- und Emerita-Wasser und der lang gestreckten Wandelhalle mit den Nischen für Kurorchester, Postschalter und Verkaufsläden. Heute ist das Gebäude am Zerfallen; 2012 wurde der Verein Pro Büvetta Tarasp zur Erhaltung und Wiederbelebung gegründet. Seit letztem Jahr steht die Büvetta unter Denkmalschutz und soll saniert werden, sobald die Investitionskosten von 12 Millionen Franken gesichert sind.
Wo die Gäste in der Trinkhalle zum Gurgeln aufgefordert wurden (Bild: Silvia Schaub).
Allen Grund zur Freude hatten die Scuoler 2019. Schriftlich erwähnt wurden die Quellen nämlich erstmals 1369. Und deshalb wurde in der Region um Scuol ausgiebig das 650-Jahre-Jubiläum gefeiert. Ein Anlass jagte den anderen – vom Orientierungslauf über humoristische Mineralwasserführungen bis zu Brunnenfesten. Doch auch nach den Feierlichkeiten lohnt es sich, den Mineralquellen auf die Spur zu gehen. Am besten begibt man sich auf den ausgeschilderten Mineralwasserweg, der in verschiedenen Routen und Längen abgelaufen werden kann. An den Brunnen oder Quellfassungen informieren Tafeln über Namen, Quelltyp, die wichtigsten Inhaltsstoffe und Eigenschaften. Selbstverständlich kann man das Wasser direkt ab Hahn trinken. «Mit oder ohne Blöterli?», heisst da die Frage. Und natürlich gehört auch ein Besuch des Bogn Engiadina mit seinen 12 verschiedenen Innen- und Aussenbecken dazu – um sich von den Wanderungen und Aktivitäten im warmen Thermalwasser zu erholen.
Die Autorin reiste auf Einladung von Engadin Scuol Samnaun Val Müstair Tourismus.
Anreise
Ab Zürich mit dem Zug in etwas mehr als 2,5 Stunden nach Scuol.
Unterkunft
Hotel Belvédère, renommiertes 4-Sterne-Haus mit direktem Zugang zum Bogn Engiadina, DZ ab Fr. 250.-. Hotel Arnica, modernes, schickes 3-Sterne-Hotel, DZ ab Fr. 114.-. Hotel Filli, gemütliches 3-Sterne-Hotel an ruhiger Lage, DZ ab Fr. 170.-.