Hinter dem imposanten Berninamassiv versteckt sich das Puschlav. Ein Tal, aus dem einst Zuckerbäcker in die Welt ausschwärmten und reich zurückkehrten. Sie wussten: Ein schönerer Ort ist schwer zu finden.
Eben noch befanden wir uns beim «Ospizio Bernina» und den Gletscherseen Lago Nero und Lago Bianco in hochalpinem Gelände, nun geht es im roten Züglein der Rhätischen Bahn durch unzählige Tunnels mehr als tausend Meter hinab ins mediterrane Ambiente des Puschlavs, ins Valposchiavo, wie es auf Italienisch heisst.
Am Weg liegt das südlichste der 150 Bündner Täler mit rund 4500 Einwohnern nicht. Trotzdem reisen Tausende von Touristen an Bord des roten Zuges von St. Moritz in den Süden nach Tirano – dem Status als UNESCOWelterbe sei Dank. Nur: Die wenigsten steigen in den Dörfern Poschiavo, Le Prese oder Brusio aus. Das ist schon fast eine Sünde. Denn nur gerade 25 Kilometer Luftlinie trennen die Gletscher des Berninamassivs von den Palmen, Weinbergen und Obstplantagen am Talausgang bei Campocologno.
Das muss auch den deutschen Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer (1916–1991) beeindruckt haben, der das italienischsprachige Tal als Gegend lobpreiste, wo es viel Unerwartetes zu entdecken gebe. Man stosse hier überall auf Eigentümlichkeiten, Seltsames, Einmaliges, schrieb er über seine Wahlheimat. Hildesheimers Literatur ist zwar etwas in Vergessenheit geraten, dabei beherrschte er wie kaum ein anderer die Vermengung von Biografie und Fiktion. So in seinem berühmten Werk über Mozart oder in seinen Büchern «Marbot» und «Tynset». Für Letzteres erhielt er 1966 den Georg-Büchner-Preis. Er konnte witzig sein und galt gleichzeitig als einer der ernsthaftesten Schriftsteller seiner Generation. Ausgerechnet er, der polyglotte, in Hamburg geborene Jude, hatte in der Valposchiavo sein Zuhause gefunden.
Wir begeben uns auf Spurensuche und stehen alsbald auf dem malerischen Dorfplatz von Poschiavo, der von stattlichen Häusern in lieblichen Pastellfarben umsäumt ist: Das historische Hotel Albrici à la Poste mit seiner goldenen Aufschrift an der Fassade, das einst Zentrum des IlluminatiOrdens war. Oder das Biobistro und Hotel Sedameni, wo sich Gäste und Einheimische nicht nur bei einem Gelato stärken. Daneben die Stiftskirche San Vittore Mauro; und hoch oben der mächtige Berg Sassalbo, der über das ganze Tal zu wachen scheint.
Es ist Mittwoch und Marcù-Tag, also Markttag. Die Sonne blinzelt zwischen den Wolken hindurch, die so tief hängen, dass sie fast die Kirchtürme berühren. Handwerker und Puschlaver Produzenten bieten ihre typischen Produkte feil: Tee von Kräutern aus dem Tal, Salame, Formaggini freschi oder das typische Puschlaver Ringbrot aus Roggenmehl mit Anis. Es riecht nach Espresso und den mit Holz angeheizten Pizza-Öfen. Man schwatzt, tratscht und lacht. In Poschiavo, wo sich die Leute schon nach dem Mittag «buona sera» sagen, kennt man sich.
Hier treffen wir Hans-Jörg Bannwart, der uns auf einen HildesheimerRundgang mitnimmt. Der Puschlaver ist ein ausgewiesener Kenner des Schriftstellers. Zum Auftakt besuchen wir den Friedhof der protestantischen Kirche, wo sich dessen Grab befindet. Es ist leicht zu erkennen: Nach jüdischer Tradition liegen kleine Steinchen auf dem Grabstein. Der Friedhof offenbart ganze Familiengeschichten. Die von den Zuckerbäckern und Cafetiers etwa, die in alle Welt ausschwärmten, um Kaffeehäuser zu eröffnen – in Odessa, Warschau, Kiew, Granada oder Madrid. «Sie kehrten – zu Vermögen gekommen – oft schon in jungem Alter wieder zurück, um hier in ihren neuen Palazzi bis zu ihrem Lebensende zu privatisieren», erzählt Hans-Jörg Bannwart, der in seinem sonstigen Leben als Präsident des Regionalgerichtes Bernina arbeitet, aber wie so viele der Pusc’ciavin das Tal zeitweilig verlassen hatte. Fürs Studium war er in der Deutschschweiz, fürs Internationale Komitee vom Roten Kreuz und für die UNO in der weiten Welt. Nur ein paar Schritte vom Friedhof sticht uns ein lachsfarbenes Gebäude ins Auge, das «Oratorio S. Anna».
Ein gruseliger Ort, liegen doch im Beinhaus Totenschädel an Totenschädel in den Wandregalen aufgereiht. Sie sollen als Memento mori dienen und somit die Sterblichkeit des Menschen vergegenwärtigen. Den Kindern davor ist das egal, sie drehen lachend und schreiend ihre Runden auf ihren Trottinetts. Im Oratorio drin hingegen stossen wir auf eine unerwartete Pracht an Kuppelmalereien. Bannwart führt uns weiter zum alten Augustiner-Kloster Santa Maria Presentata. Das einst geschlossene Kloster wird von einer hohen, gelben Mauer umgeben. Nur durch eine kleine, drehende Durchreiche für Briefe und Pakete hatten die Nonnen Kontakt zur Aussenwelt. Heute sind im ehemaligen Kloster Collagen von Hildesheimer, der auch als Künstler tätig war, zu sehen.
Gut möglich, dass Hildesheimer einige davon bereits in seinem ersten Atelier am Ortsrand angefertigt hat. Die dortigen terrassierten Gärten und Felder am steilen Osthang über dem Borgo von Poschiavo sind eine weitere Besonderheit. Bis ins 20. Jahrhundert wurden sie für den Frucht- und Gemüseanbau genutzt. Gemalt hat Hildesheimer jedoch sicher in seinem späteren Atelier direkt am Flüsschen Poschiavino, das nur wenige Schritte von der Casa Gay entfernt liegt, in der er mit seiner Frau dreissig Jahre lebte. Denn 1983 verabschiedete er sich ganz vom Schreiben – angesichts des «realen Grauens unserer Tage». Er war überzeugt, dass die Welt auf eine ökologische Katastrophe hinsteuere, was zur Folge habe, dass es keine Menschen mehr geben werde, «auch keine Hildesheimer-Leser mehr».
Und dann steht man vor der Häuserzeile am südlichen Dorfrand von Poschiavo, die man in einem Bündner Bergdorf überhaupt nicht erwarten würde. Die Fassaden strahlen in süssem Rosa oder Lachs. Hildesheimer bezeichnete die Häuser als «in Architektur transportierter Zuckerguss, Tortenverzierung al fresco; kurz: liebevoll realisierte Lebensziele». Sie entstanden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für die heimgekehrten Puschlaver. Spaniolenviertel wird das Quartier auch genannt, weil viele der Besitzer auf der iberischen Halbinsel zu Reichtum gekommen waren. Eine Station darf nicht unterschlagen werden: das Ristorante Motrice. Hierhin hat es den Schreiberling oft gezogen. Wohl nicht zuletzt der köstlichen Gerichte wegen. Sie sind ein Grund, unbedingt in der Valposchiavo einen Zwischenhalt einzulegen. Die Puschlaver sind nicht nur ein offenes, umgängliches Völkchen, sie sind vor allem auch Geniesser. Manchmal ziehen sie gar zu Hunderten durch die Strassen, etwa während der «Stramangiada», einem kulinarischen Spaziergang zwischen Poschiavo und Le Prese. Da gibt es dann etwa Spezialitäten wie Pizzoccheri, Furmagin da cion (eine Art Fleischkäse) oder ChabisZiegenfrischkäse. Und erst noch in Bioqualität. Die Puschlaver haben sich nämlich zum Ziel gesetzt, zum ersten Biotal der Schweiz zu werden.
Die Reise wurde durch Valposchiavo Turismo ermöglicht.
Anreise
Mit dem Zug ab Zürich via Chur auf der Albula-/Bernina-Route in knapp fünf Stunden nach Poschiavo. Beste Reisezeit Das Puschlav ist zu jeder Jahreszeit interessant, empfehlenswert zum Wandern aber besonders zwischen Mai und Oktober.
Unterkunft
Das Hotel Le Prese im Dorf Le Prese liegt direkt am See in einem riesigen Park. Sehr zentral ist das historische Hotel Albrici à la Poste an der Piazza in Poschiavo.
Essen und Trinken
In Poschiavo: Lokale Spezialitäten neu interpretiert gibt es in der Hostaria del Borgo; im «Semadeni Biobistro» hausgemachte Gelati probieren; Köstliches im Ristorante Motrice. In Le Prese: Holzofenpizze aus lokalem Mehl im «Raselli Sport». In Miralago: Im gemütlichen Grotto Miralago gibt es lokale Köstlichkeiten.
Ausflugstipps
Gletschermühlen in Cavaglia; zu Fuss oder mit dem Bike von Poschiavo zur Alpe San Romerio; eine Schifffahrt auf dem Lago di Poschiavo; Wanderung ins Val da Camp zum Lagh da Saoseo.
Weitere Infos unter valposchiavo.ch